Unterricht mit Schülern aus aller Welt aus Sicht einer Lehrerin

Montag, 09 Uhr 55:
Gleich beginnt meine erste Unterrichtsstunde bei Deutsch für Flüchtlinge e. V. Einige meiner Kursteilnehmerinnen und Kursteilnehmer habe ich schon am Eingang gesehen und ihnen unserer Klassenzimmer gezeigt. Da schienen sie ganz nett zu sein, aber jetzt wo mich 16 Augenpaare gespannt und leicht skeptisch ansehen, bin ich mir da nicht mehr so sicher… Ob sie mich als so junge Lehrerin respektieren werden? Der Mann hier vorne scheint jedenfalls bei meinem Anblick, nicht sonderlich erfreut zu sein. Ich kann ihm seine Zweifel an meiner Kompetenz förmlich ansehen… Und die Dame in der letzten Reihe ganz rechts hat wohl gerade wichtiges zu tun, als mir ihre Aufmerksamkeit zu schenken.
Naja, da muss ich jetzt durch …

Beginnen wir am besten mit einer Vorstellungsrunde, mich interessiert ja schon, wo sie alle herkommen und wie lange sie schon in Deutschland sind. Gerade als ich mit meiner kleinen Einführung fertig bin, geht die Türe auf und es wird noch ein verirrter Teilnehmer gebracht. Also gut, nochmal von vorne … Unsere kleine Kennenlernrunde wird noch zweimal unterbrochen …

Notiz an mich selbst: Auf die deutsche Pünktlichkeit muss ich im Rahmen der Kulturvermittlung unbedingt nochmal explizit eingehen. Jedenfalls entschuldigen sich die zu spätkommenden Teilnehmerinnen und Teilnehmer ganz freundlich und weisen die Schuld auf den MVV. Der beliebteste Entschuldigungsgrund, wie sich in den nächsten Wochen zeigen wird.

Zurück zum ersten Kurstag …
Nach der kleinen Vorstellungsrunde habe ich mir schon ein erstes Bild von den mündlichen Kompetenzen meiner Kursteilnehmenden gemacht. Während sich viele schon gut ausdrücken können, hat eine Teilnehmerin große Mühe, ihr Herkunftsland zu nennen. Sie ist dafür super motiviert und wie sich später im schriftlichen Einstufungstest zeigen wird, im Schreiben um einiges besser als der skeptisch blickende Mann in der ersten Reihe. Eine sehr heterogene Lerngruppe – wunderbar, ich liebe Herausforderungen! Da werde ich wohl auf all mein theoretisches Wissen und meine methodischen Kompetenzen aus dem Studium zurückgreifen müssen.
Nichtsdestotrotz zeigt sich, dass bei der Einstufung mal wieder ganz hervorragende Arbeit geleistet wurde, denn alle Teilnehmenden sind trotz ihrer unterschiedlichen Leistungen in meinem Anfängerkurs auf den Niveau A1.1 genau richtig! Auch wenn ein Teilnehmer anderer Meinung ist und mir auf Englisch erklärt, er müsse unbedingt in den B1-Kurs wechseln. So leid es mir tut, auch du wirst Possesivartikel und die Modalverben „können“ und „wollen“ lernen müssen.

Im Laufe des Kurses lernten wir uns gegenseitig immer besser kennen. So wusste ich mit der Zeit, welche Themengebiete und Aufgaben tendenziell schwieriger waren und dadurch nicht nur mehr Zeit in Anspruch nahmen, sondern auch mich didaktisch mehr forderten. Es wäre gelogen an dieser Stelle zu behaupten, ich hätte immer spontan auf alle Fragen eine Antwort gewusst. Als Muttersprachlerin bin ich bis dato noch nie mit der Frage konfrontiert worden, worin genau der Unterschied zwischen den Verben „lernen“ und „erlernen“ liegt oder warum es nun „das Haarband“ aber „der Sammelband“ heißt.
Zu meiner Freude waren fast alle Teilnehmerinnen und Teilnehmer trotz willkürlich erscheinender Artikel und schier endlosen Komposita fleißig und gewillt, die deutsche Sprache zu lernen. Entschuldigungen wie „Mein Fahrrad hat ein Problem, deshalb ich konnte gestern nicht zur Schule kommen“ oder „Ich habe nicht gut geschlafen, deshalb ich konnte Sie nicht besuchen“ blieben zum Glück die Ausnahme und zeugten nicht nur von Kreativität, sondern wiesen mich unterschwellig auf die Notwendigkeit hin, die Bildung von Nebensatzkonstruktionen zu wiederholen.

Es waren intensive elf Wochen, in denen nicht nur die Kursteilnehmerinnen und Kursteilnehmer neues lernten, sondern auch ich jeden Tag meine methodischen und interkulturellen Fähigkeiten verbessern und erweitern konnte. Während wir also über Hausordnungen, Straßenverkehrsordnungen oder Sprichwörter wie „Ordnung ist das halbe Leben“ sprachen, lernte ich selbst, auch mal spontan zu sein, auf die fünfte Mix-and-Match- Übung zu verzichten, weil sich gerade ein sehr interessantes ungeplantes Gespräch
entwickelt und siehe da, es war auch „in Ordnung“.

Freitag,11 Wochen später, 9 Uhr 55:
18 Augenpaare sind auf mich gerichtet, ich habe die volle Aufmerksamkeit. In den Händen halte ich die Teilnahmebestätigungen. Ich kann es noch immer kaum glauben, wie viel jeder und jede in den vergangenen drei Monaten gelernt hat, auch wenn es nicht für alle zum Bestehen des Abschlusstests gereicht hat. Lernen ist und bleibt ein individueller Prozess, für den 99 Unterrichtsstunden nun manchmal einfach nicht ausreichen. Dass es ihnen allen trotzdem Spaß gemacht hat, merke ich nicht zuletzt daran, wie gerne sie mich auch im nächsten Kurs als Lehrerin haben wollen und auch Peter aus der ersten Reihe lächelt.